Neuritis vestibularis - S2K Leitlinie
- Praxis-Strandallee
- 5. Apr.
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 6. Apr.
Neuritis vestibularis, auch als vestibuläre Neuronitis oder akute unilaterale Vestibulopathie bekannt, ist eine Erkrankung, die durch eine Entzündung des Gleichgewichtsnervs (Nervus vestibularis) gekennzeichnet ist und zu plötzlichem, starken Schwindel führt.
Erfahren Sie mehr in der aktuellen S2k-Leitlinie zu Diagnostik und Therapie.
S2k-Leitlinie: Vestibuläre Funktionsstörungen (Stand März 2021, nä. Überprüfung 03/2026))
Herausgeber:
Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e. V. (DGHNO-KHC)
Terminologie
Akute unilaterale periphere Vestibulopathie, Neuronitis vestibularis, Neuropathia vestibularis
Diagnose
Anamnese
Die typischen Symptome sind wie folgt: akut oder subakut einsetzender, mindestens 24 h bis viele Tage anhaltender, initial meist heftiger Dauerdrehschwindel. Dem akuten Beginn können kurze Schwindelattacken vorausgehen (Lee et al. 2009). Ferner berichten Patienten über spontane Scheinbewegungen der Umgebung. Daneben geben sie eine Stand- und Gangunsicherheit an, die sich bei Augenschluss verstärkt. Schließlich besteht bei vielen Patienten Übelkeit bis hin zum Erbrechen, die sich bei Bewegung verstärkt. Nicht zum Krankheitsbild gehören: akute Hörstörungen, Tinnitus oder zentrale neurologische Symptome. Danach müssen die Patienten explizit befragt werden.
Körperliche Untersuchung
Bei der körperlichen Untersuchung finden sich typischerweise die folgenden Befunde:
Horizontal-torsioneller peripherer vestibulärer Spontannystagmus, dessen schnelle Phase zur mutmaßlich nicht-betroffenen Seite schlägt. Der Nystagmus wird durch visuelle Fixation partiell oder vollständig unterdrückt. Die Intensität nimmt bei reduzierter visueller Fixation unter der Frenzel/MBrille sowie beim Blick in Richtung der schnellen Phase zu. Dies sind die typischen Charakteristika eines peripheren vestibulären Spontannystagmus. Ein Nystagmus, der durch visuelle Fixation nicht abschwächbar/unterdrückbar ist, ist kein peripherer Spontannystagmus.
Pathologischer „Bedside-KIT“: bei Kopfdrehung zur mutmaßlich betroffenen Seite findet sich eine Refixationssakkade die ein VOR Defizit anzeigt.
Pathologische mono- und binokuläre Auslenkung der Subjektiven Visuellen Vertikalen (SVV) zur Seite des mutmaßlich betroffenen Labyrinths.
Vermehrtes Schwanken, typischerweise zur Seite der Läsion im Romberg Test mit Zunahme nach Augenschluss.
MERKE: Bei zentralen Ursachen findet sich häufig ein Befundmuster, das eine Differenzierung zwischen peripheren und zentralen Ursachen erschwert. Dies gilt insbesondere für akute Infarkte im Bereich der Versorgungs-gebiete der A. cerebellaris inferior anterior (AICA) und A. cerebellaris posterior inferior (PICA). Beim akuten vestibulären Syndrom sind daher zur Differenzierung fachübergreifende Maßnahmen für Diagnostik und Therapie besonders wichtig.
Apparative Diagnostik
Vestibuläre Testung
Für die Diagnosesicherung ist der Nachweis einer einseitig deutlich reduzierten Funktion des VOR erforderlich. Diese kann quantifiziert werden mit
dem Video-Kopfimpulstest (vHIT) (Halmagyi et al. 2017) für den hohen Frequenzbereich des VOR mit einem Defizit auf der betroffenen Seite (Verstärkung/gain < 0,7) und/oder
der kalorischen Testung für den niedrigen Frequenzbereich des VOR mit einer relativen > 25% Seitendifferenz nach der „vestibular paresis formula von Jongkees“ (Jongkees, Maas et al. 1962); (Jongkees et al. 1962)
Audiologische Testung
Ergeben sich in der Anamnese und/oder klinischen Testung Hinweise für eine akut aufgetretene Hörstörung, ist ein Reintonaudiogram indiziert, weil sowohl ein Morbus Menière mit einer typischen Tieftonhörminderung (Lopez-Escamez et al. 2015) als auch ein AICA-Infarkt (s.u.) mit einer Hörstörung einhergehen und abgegrenzt werden müssen.
Bildgebung
Ergeben sich in der Anamnese oder klinischen Untersuchung Hinweise für eine zentrale Ursache der Symptome, ist eine notfallmäßige Bildgebung indiziert: mittels CT zum Ausschluss einer Blutung, mittels CT Angiographie mit der Frage nach einer Vertebralis-/ Basilarisstenose und mittels MRT, inklusive diffusionsgewichteter Sequenzen. Hier ist aber zu betonen, dass die MRT im Bereich des Hirnstamms/Kleinhirns bei Läsionen < 10 mm innerhalb der erster 24 h nach Symptombeginn bei 50% der Patienten unauffällig ist (Saber Tehrani et al. 2018). Umso wichtiger ist wie o.g. eine systematische Anamnese und klinische Untersuchung, die eine Differenzierung zwischen einer AUVP und einem akuten zentralnervösem vestibulärem Syndrom (AZVS) mit einer Sensitivität und Spezifität von ca. 90% ermöglicht (Cnyrim et al. 2008; Kattah et al. 2009; Saber Tehrani et al. 2018).
Differentialdiagnosen
Cogan Syndrom
Herpes zoster oticus (Ramsay-Hunt Syndrom)
Ischämie/Blutung/Entzündung im Bereich des Hirnstamms oder Kleinhirns
Cupulolithiasis des horizontalen Bogengangs
Labyrinthitis
Morbus Menière
Vestibularisparoxysmie
Vestibuläre Migräne
Vestibularisschwannom
Therapie
Die Therapie der akuten unilateralen Vestibulopathie beruht auf drei Prinzipien: symptomatische, kausale und physiotherapeutische Behandlung.
Symptomatische Therapie
In der akuten Phase können Antivertiginosa gegeben werden, die mit Histamin-, Muskarin-, Dopamin-, Serotonin- und/oder GABA-Rezeptoren interagieren (Übersicht in (Soto et al. 2013; Chabbert2016)). Sedierende Antivertiginosa sollten nur maximal ein bis drei Tage und nur bei schwerer Übelkeit und Erbrechen gegeben werden. Darüber hinaus richtet sich die eingesetzte Substanz auch nach den unerwünschten Wirkungen, insbesondere anti-dopaminergen, die zu einem persistierenden Parkinsonoid führen können, und den individuellen Kontraindikationen. Zur akuten Behandlung von Schwindel, Übelkeit und Erbrechen ist die z.B. Gabe von Dimenhydrinat (oral 50 mg - 100 mg oder iv. oder rektal (max. tgl. Dosis 400 mg), Ondansetron (oral 4 - 8 mg, bis zu 4x8 mg/d; oder i.v. 4 mg - 8 mg i.v. (max. Dosis 32 mg/d) oder Lorazepam (oral 0.5- 1 mg bis 4 mg/d) sinnvoll (Übersicht in (Strupp u. Zwergal 2020)).
Kausale Therapie
Corticosteroide und Virostatika. Eine prospektive, randomisierte, Placebo-kontrollierte Studie mit 141 Patienten zeigte, dass eine Monotherapie mit Methylprednisolon zu einer signifikanten Verbesserung der Erholung der peripheren vestibulären Funktion nach 12 Monaten führte (Strupp et al. 2004). Valaciclovir hatte weder als Monotherapie noch in Kombination mit Methyl-Prednisolon einen Einfluss auf den Verlauf der Erkrankung. Der fehlende Effekt des Virostatikums lässt sich dadurch erklären, dass die Replikation von HSV-1 zum Beginn der Behandlung weitgehend abgeschlossen ist. In einer anderen prospektiven Studie wurde gezeigt, dass der Behandlungserfolg von Steroiden von der Latenz zwischen Symptombeginn und Therapiebeginn abhängt. Alle 9 Patienten, die innerhalb von 24 h therapiert worden waren, hatten eine normale kalorische Testung nach drei Monaten, wohingegen bei den 14 Patienten mit einem Behandlungsbeginn zwischen 25 h und 72 h in nur 58% eine Normalisierung beobachtet wurde (p<0,05) (Sjogren et al. 2019). Es handelt sich dabei aber um keine verblindete oder Placebo-kontrollierte Studie mit einer zusätzlich nur kurzen Verlaufskontrolle.
In einer Cochrane-Analyse wird ein Trend einer Behandlung mit Corticosteroiden einen Monat nach Erkrankungsbeginn zwar gesehen, allerdings keine allgemeine Behandlungsempfehlung gegeben, da nicht genügend Studien vorlagen und die Auswirkungen auf die Lebensqualität nicht ausreichend untersucht worden seien (Fishman et al. 2011). Ferner, um bei intravenöser Applikation relevante Medikamentenspiegel im Innenohr zu erreichen, ist eine Verabreichung von min. 250 mg Prednisolon i.v. erforderlich (Niedermeyer, Zahneisen et al. 2003). Schließlich liegen bislang keine evidenzbasierten Studien zur transtympanalen Therapie mit Corticosteroiden vor.
Zusammengefasst: Um den Therapieeffekt von Corticosteroiden zu belegen, ist mindestens eine weitere randomisierte, prospektive Placebo-kontrollierte Studie notwendig, die über mehrere Monate sowohl die Erholung der peripher vestibulären Funktion mittels vHIT und kalorischer Testung als auch Lebensqualität und Funktionsfähigkeit des Patienten im Alltag erfasst.
Weltweit werden allerdings Corticosteroide in unterschiedlicher Dosierung verabreicht oder empfohlen. Die oralen Dosierungen reichen von 50-60 mg Prednisolon/d bis zu 40 mg Dexamethason/d, was 250 bis 300 mg Prednisolon/d entspricht. Da auch beim Hörsturz eine Therapie mit einer Äquivalenzdosis von 250 mg Prednisolon/d empfohlen wird, wird dies ebenfalls für die akute unilaterale Vestibulopathie vorgeschlagen.
Expertenkonsensus (einstimmig 11 von 11)
Es wird empfohlen, bei der akuten unilateralen Vestibulopathie mit Corticosteroiden in einer Äquivalenzdosis von 250 mg Prednisolon/d oral oder i.v. die Therapie unmittelbar nach Symptombeginn zu beginnen. Innerhalb der ersten 3 Tage nach Beginn der Symptome ist die Effektivität offensichtlich am höchsten (s.o.).
Gleichgewichtstraining
Das bislang wichtige Behandlungsprinzip zur Förderung der zentralen Kompensation einer akuten unilateralen Vestibulopathie ist physikalische Therapie mit aktivem Gleichgewichts-training, mit dem so früh wie möglich nach Einsetzen der Symptomatik begonnen werden sollte (Übersichten in (Sulway u. Whitney 2019; Tjernstrom et al. 2016; Crane u. Schubert 2018)).
Dessen Wirksamkeit (Übersicht in (Crane u. Schubert 2018)) wurde in tierexperimentellen Studien und in mehreren kontrollierten klinischen Studien belegt (z.B. (Strupp et al. 1998; Tokle et al. 2020)). Dies wird durch eine Cochrane-Analyse (McDonnell u. Hillier 2015) gestützt (2013). Abhängig vom Grad der vegetativen Begleitsymptomatik, dem Allgemeinzustand und der Gehfähigkeit sollte die Therapie stationär oder ambulant durchgeführt werden. Es werden drei Übungseinheiten pro Tag von jeweils mindestens 15 min über – je nach Verlauf – ca. vier Wochen empfohlen. Besonders wichtig sind dabei offensichtlich horizontale Drehungen des Kopfes (Lehnen et al. 2018), um die vestibuläre Tonusimbalance als Störreiz für die vestibuläre Kompensation zu erhöhen. Ein weiterer Vorteil dieser einfachen Maßnahme: Sie können vom Patienten bereits durchgeführt werden, wenn er noch bettlägerig ist und gehen dann nicht mit erhöhter Sturzgefahr einher.
Die Therapie des idiopathischen Hörsturzes mit vestibulärer Beteiligung entspricht in der Akutphase der Therapie des idiopathischen sensorineuralen Hörsturzes. Die Therapie erfolgt durch systemische Verabreichung von Prednisolon in hoher Dosierung (>= 250mg über mehrere Tage) (Rauch 2008). Die lokale (intratympanale) Verabreichung von Glukocorticosteroiden kann gemäß Meta-Analyse (Li, Feng et al. 2015) als Sekundärtherapie (bei fehlendem Ansprechen) eine Verbesserung der Prognose ergeben. Bei randomisierten Studien ergeben sich bislang kontroverse Ergebnisse.
Quelle: S2k-Leitlinie - Vestibuläre Funktionsstörungen AWMF-Register-Nr. 017/078, Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e.V.
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